17.04.2006 - Bestzeit beim 110. Boston Marathon
 
 


Boston Marathon 2006

Am Heartbreak Hill

Laufveranstaltung: 110th Boston Marathon am 17.04.2006 in Boston, MA, 42.195 Km
Homepage: http://www.baa.org/BostonMarathon/110thMarathon.asp
Beschaffenheit und Profil: 100% Asphalt, sehr wellig, 283 Höhenmeter rauf, 421 Höhenmeter runter (mein eigenes Messgerät zeigte sogar 509 hoch und 661 runter an)
Wetter: leicht bedeckt, manchmal sonnig, etwa 12 bis 15 Grad, manchmal etwas Wind schräg von vorne.
Teilnehmer: 20.117, davon 19.688 im Ziel (97,9%)
Zeit und Platzierung: 3:43:44
Platz 9.580 insgesamt
Platz 2.945. in Altersklasse Masters (40-49)
Laufbericht:

Der legendäre Boston Marathon – der Klassiker unter den City-Marathons, der Traum jedes (amerikanischen) Marathonläufers, die Mutter aller Marathonläufe … bis vor einem knappen halben Jahr war dieser Wahnsinnsevent überhaupt nicht in meinem Blickfeld. Natürlich hatte auch ich mir vorgenommen, irgendwann mal New York zu laufen, das ist ja schließlich ein „Volkslauf“. Aber Boston ist streng limitiert auf 20.000 Teilnehmer und hat eine Qualifikationszeit von 3:20 für M40. Ich müsste also entweder knapp 25 Minuten schneller sein als meine bisherige Bestzeit (die noch dazu zu alt wäre, 18 Monate ist das Verfallsdatum) oder 11 Jahre älter (das geht auch nicht einfach von einem Tag auf den anderen). Ich musste aber trotzdem keine Sekunde nachdenken, als mir von einem Geschäftspartner letztes Jahr im Dezember ein Startplatz angeboten wurde. Nach einer etwas verkorksten zweiten Jahreshälfte 2005 inclusive eines nicht zu Ende gelaufenen Köln-Marathons war das außerdem eine Riesenmotivation, trotz Wintersaison wieder ein ernsthaftes Training aufzunehmen.

Vorbereitung:

Mein 10-Wochen-Plan startete in KW6 und ich hatte mir eigentlich vorgenommen, die Wochen davor die Umfänge wieder langsam auf ein akzeptables Maß zu bringen. Die Ausreden, warum das dann doch nicht geklappt hat, erspare ich euch. Der Wochenschnitt lag bei 23 km und der eine oder andere Läuferkollege hob warnend den Zeigefinger, als ich in KW6 dann mit 60 Wochenkilometern einstieg. Ich wusste ja aber, dass ich groß und vernünftig bin, wie alle Läufer, und auf die Signale meines Körpers hören würde. Mit dem Training will ich euch eigentlich nicht weiter langweilen, aber etwas VWKGJ (Vorwettkampfgejammere) muss halt trotzdem sein, bevor es weiter nach Boston geht. 8 Wochen intensives Training mit auf 35km gesteigerten Langen, schnellen Intervallen, etwas gequälten Läufen im Marathonrenntempo und ab und zu Hill Repeats. Maximalumfang war 96 Wochenkilometer, ein Langer musste aus Zeitmangel ausfallen. Pünktlich zum Taperingbeginn bekam ich eine kräftige Erkältung, so dass zwar noch 2 Einheiten ausfielen, ich aber wenigstens rechtzeitig wieder gesund war und gar nicht zuviel laufen konnte. Und wie üblich war ich mir völlig darüber im unklaren, welches Tempo ich im Rennen vernünftigerweise einschlage, um möglichst gleichmäßig durchlaufen zu können. Kalkuliert war mit 5:15 und meine Zielvorstellungen lagen irgendwo zwischen 3:39:59 und 4:00:00, zumal mir die Höhenprofile und im Internet vorgefundenen Berichte doch etwas Kopfschmerzen bereiteten. Für die Amerikaner mag das ja einfacher sein, weil sie nur 26.2 Meilen laufen müssen, mir standen aber wie üblich 42,195 km bevor. Nun aber Schluss damit, auf in den Flieger nach Boston.

Pre-Race:

Freitag nachmittag in Boston angekommen, früh ins Bett und wegen der Zeitumstellung schlecht geschlafen. Samstag morgen ganz lockere 5km im Park neben dem Hotel gejogged und dann mit dem Bus zum Startort Hopkinton zur Streckenbesichtigung. Hopkinton ist ein verschlafener kleiner Ort , 42,195 km westlich von Boston, und wäre der Welt wohl gänzlich unbekannt, wenn dort nicht zum einen der Start des Marathons wäre und zum anderen die sechstgrößte IT-Firma der Welt, EMC², ihren Hauptsitz hätte. Das Marathon-Fieber war schon voll ausgebrochen und ein Polizist stoppte den Straßenverkehr, als wir ein Foto der Startlinie machen wollten – einer von vielen supernetten Amerikanern. Als der Bus dann die Strecke abfuhr, wurden meine schlimmsten Befürchtungen von der Strecke noch übertroffen. Das mir bekannte Höhenprofil war ein stilisiertes, in dem die Höhenmeter der einzelnen Meilen mit geraden Linien verbunden waren. Was dort also wie 4 Meilen nur bergab aussah (wobei das auch nicht unbedingt angenehm sein muss) war in Wirklichkeit ein ständiges auf und ab und zog sich bis Meile 16, wo der vorläufig tiefste Punkt der Strecke erreicht wird. Bis dahin insgesamt 450 Füße (oder 150 Meter) Höhenverlust. Bis Meile 20.5 geht es dann wieder 200 Füße nach oben, natürlich auch in Wellen. Der letzte dieser 3 Anstiege ist der berühmt-berüchtigte Heartbreak-Hill – nicht nach der dort durchdrehenden Anzeige der Pulsuhr benannt, sondern nach einer Geschichte über DIE Marathon-Legende an sich, Johnny Kelley. Dieser gewann Boston 2mal und hat von 1928 bis 1992 insgesamt 61mal teilgenommen, bis er sich im Alter von 84 Jahren aus dem aktiven Sport zurückzog.1936 lag er hinter Tarzan Brown an zweiter Stelle, als er diesen am Berg überholte und ihm dabei spielerisch auf die Schulter klopfte. Tarzan hat das so erzürnt, dass er seinen zweiten Wind bekam und an Kelley wieder vorbeizog und das Rennen gewann. Dies Erlebnis brach Kelley das Herz und seitdem hat der Berg seinen Namen weg. Hinter dem Heartbreak-Hill geht es dann wieder 250 Füße bergab (außer wenn es phasenweise noch mal bergauf geht) zum Ziel im Zentrum von Boston, der Boylston Street nahe des John Hancock Centers (nach meinem Augenmaß vermutlich der höchste Wolkenkratzer Bostons).
Ich kann jetzt nicht behaupten, dass mich die Besichtigung der Strecke besonders optimistisch gestimmt hat, aber zumindest wusste ich nun, was 2 Tage später auf mich zukommen wird und ich bin trotzdem auf die Marathon-Messe gefahren, die Startunterlagen abholen. Das ging sehr schnell, man musste sich nur kurz bei den in 500er Gruppen aufgeteilten Startnummernständen anstellen. An den nächsten beiden Ständen noch das offizielle Sweatshirt und den Kleiderbeutel mit Pröbchen ohne Ende überreicht bekommen und dann das Angebot und die niedrigen Laufschuhpreise bewundert. Ja, ich gebe zu, 2 Paar sind es geworden. Von der Messe gab es einen Shuttle-Bus in die Stadt zurück, damit die armen Läufer sich schonen konnten. Im Bus gab es ein Quiz mit amerikanischen Sportfragen, bei dem schicke Schuhbeutel von Nike zu gewinnen waren. Das Mädel hatte ein Einsehen mit den teilweise deutschen Fahrgästen und stellte auch eine ihr zugeflüsterte Frage zu deutschen Ironman-Siegern auf Hawaii. Die Beutel waren unser – die Japanerin wusste es zwar auch, war aber langsamer. Und meine supernette amerikanische Nebenfrau schenkte mir das Plakat von adidas mit den eingeprägten Namen aller diesjährigen Marathonstarter auf Vorder- und Rückseite. Ich hatte das gar nicht mitbekommen und sie meinte, sie könne am nächsten Tag noch mal hin und sich ein neues holen. Überhaupt, die ganze Stadt war an dem Wochenende im völligen Marathonfieber. Wildfremde Menschen sprachen dich an, wenn sie dich als potenziellen Marathonläufer identifiziert hatten, fragten dich nach Deutschland und deiner Marathonerfahrung, beneideten dich um die Teilnahme und wünschten dir viel Glück für den Lauf. Und es scheint keinen Bostoner unter 80 Kilogramm zu geben, der nicht irgendwann selber mal teilgenommen hat.
Den herrlichen Frühlingssonntag habe ich sehr ruhig verbracht, morgens noch 2km gelaufen, einen kleinen Stadtbummel zum bereits abgesperrten Zielbereich gemacht, das daraus resultierende Verkehrschaos bestaunt und nachmittags auf dem Bett gelegen und Fernsehen geschaut. Da gab es bereits auf mehreren Kanälen ausführliche Vorberichte zum Rennen und bei der Wettervorhersage sogar eine spezielle Vorschau für den Marathon. Die angekündigten 14 Grad, die sich wie 12 anfühlen sollten, waren ja noch okay, der für nachmittags angedrohte 26 km/h kräftige NO-Wind (also Gegenwind) machte mir deutlich mehr Sorgen. Die Pasta-Party ging von 16:30 bis 21:00 und auf der Eintrittskarte (im Startgeld inbegriffen, ansonsten 15$ auf dem freien Markt) war für jeden Läufer die individuelle Essenszeit aufgedruckt mit der Aufforderung, entweder dann zu kommen oder die Karte mit einem anderen Läufer zu tauschen. Ich wäre hier mit meiner Zeit zwar bei den Elite-Essern gewesen, aber die ca. 300 Meter lange Schlange ließ mich direkt wieder umkehren. Es gibt schließlich noch mehr Pasta in Boston. Soll aber eine Spitzenveranstaltung gewesen sein.

Zum Start:

Der Boston Marathon findet immer am 3. Montag im April statt, dem sogenannten Patriots day. Hat bestimmt irgendetwas mit erfolgreichen Zwistigkeiten mit Engländern zu tun, ist aber kein echter Feiertag. Die meisten Bostoner opfern trotzdem einen Urlaubstag, um am Vormittag das Spiel ihrer Red Sox anzusehen (baseball, was sonst) und am Nachmittag die Marathonläufer anzufeuern. Schule kann es auch keine gegeben haben, weil etwa 350 gelbe Schulbusse in Reih und Glied aufgereiht waren, um ab 7:00 die Läufer von Boston City zum Start in Hopkinton zu karren. Die Startnummer bestimmt die Abfahrtzeit (je höher, je früher) und auf der kein Ende nehmenden Fahrt über den Highway durch die neuenglischen Wälder frage ich mich, wie ich allen Ernstes diese Strecke zu Fuß zurücklaufen möchte. Naja, 19.999 andere glauben ja auch, das zu schaffen.
In Hopkinton wurde man jetzt nicht im Startbereich abgesetzt, sondern am Anfang einer vielleicht 1km langen Straße, die ins athletes village führt. Genau genommen, in die beiden villages, nämlich das blaue für Startnummern 1+n bis 10.000, das rote für Startnummern 10.001 bis 23.999 (die Startnummern waren nach Qualifikationszeiten vergeben). Also brav im Menschenstrom dorthin geschlichen und kurz vor Ankunft aus aktuellem Anlass Ausschau nach Klos gehalten. Dixies (hier port-a-john genannt) waren keine in Sicht und auf den Rasen eines der kleinen Häuser darf man bestimmt nicht (zumal in Amerika bei Hausfriedensbruch direkt geschossen werden darf). Da war auch schon die Schule, bei der die Busse für die Kleidersackabgabe standen und viele Läufer rumsaßen oder standen, aber keine port-a-johns und keine Hinweisschilder. Dafür 4 Kollegen, die mit dem Gesicht zur Schulwand standen und diese sicher nicht nur anschauten. Ich also direkt dazugesellt, aber die waren schon fertig und ich hatte kaum angefangen, als ein Polizist auf dem Fahrrad angesaust kam und mich fragte, was mir einfiele „to pee the flowers“. Ich wurde zum Glück nicht verhaftet und der kurze Moment hatte ausreichend Erleichterung gebracht. Auf dem Sportplatz für die rote Gruppe angekommen nahm ich mir noch einen trockenen Bagel und ein Getränk und stellte mich brav in der langen Schlange vor den endlich massenhaft vorhandenen Dixies an und versuchte dabei rauszukriegen, ob der unaufhörlich in den Lautsprecher nuschelnde Ansager mir auch etwas zu sagen habe. Meine einheimischen Nebenleute verstanden ihn aber auch nicht so recht und ich beschloss mich einfach an der Mehrheit zu orientieren.
Um 11:30 erfolgte der Start der ca. 30 Elitefrauen, eine gute Sache, da zumindest die schnellsten von diesen dadurch ihren eigenen Zieleinlauf haben. Die Handvoll Wheelchairs war schon vorher gestartet. Um 12:00 startete dann die erste Welle, also die blaue Gruppe. Nachdem in den Vorjahren theoretisch alle Läufer gleichzeitig gestartet waren und dies sich über 45 Minuten hinzog, hatte der Veranstalter sich mit dem Wellenstart etwas neues überlegt. Die zweite Welle startete ab 12:30, konnte dadurch direkt loslaufen und hat weniger als 15 Minuten dafür benötigt. Meine Chancen, die Kenianer noch einzuholen, wurden dadurch natürlich noch weiter reduziert. Etwa 12:10 brach dann meine rote Gruppe zum Start auf, also wieder einen Kilometer die Straße zurück bis zu den corrals für jeweils 1000 Starter. Beim Betreten des eigenen coralls wurde von mehreren Aufpassern peinlich genau kontrolliert, ob die Startnummer zum corral passt. Ich stellte erfreut fest, dass ich in einem fast rein weiblichen corral gelandet war, nahm mir vor, keine unnötigen Überholmanöver auf den ersten Kilometern zu unternehmen, spendete meine Jogginghose und das Sweatshirt für die amerikanischen Obdachlosen und wartete die letzten Sekunden ab, bis auch für mich das Rennen losging. Ob ich auf Zeit oder auf Genießen oder womöglich auf beides laufen wollte, hatte ich immer noch nicht endgültig festgelegt.

Das Rennen:

Und los! Kilometer 1 locker bergab getrabt, gab dann eine 5:02 mit einem 70er Puls, perfekt. Zum Glück bin ich mit einem eigenen Kilometerzähler ausgerüstet, an der Strecke gab es nämlich nur Meilenmarkierungen und alle 5km eine Matte, beide mit einer digitalen Laufzeitanzeige. Die einem natürlich nur gezeigt hat, wie lange der erste Läufer zu diesem Zeitpunkt unterwegs ist, davon musste man noch die eigene Startzeit – 12 abziehen. Rechnen fällt mir beim Marathon eh schwer genug, aber dann noch mit den für mich völlig ungewohnten Meilenzeiten zu operieren fand ich zu herausfordernd. Ich hatte mir daher auf der Messe auch kein kostenloses Armband mit den Durchgangszeiten nach eigener Gesamtzeitvorgabe besorgt. Eigentlich eine tolle Sache, zumal das Profil der Strecke bei den vorgesehenen Zeiten mit berücksichtigt wurde. Kilometer 2 dann in 5:01, Puls 75%. Auf dem dritten Kilometer gabs die erste Getränkestation, der war daher nur 5:16. Ich trinke zwar meist im Laufen, aber ich musste sowohl den Gatorade-Verteilern ausweichen, die einem das Zeug geradezu aufdrängen wollten und den stehen bleibenden Läufern, die es dankbar annahmen. Ab da wusste ich, dass es Wasser immer erst am Ende gibt und habe mich am Anfang der Getränkeausgabe in der Straßenmitte aufgehalten. Jede Station war sowohl auf der linken als auch auf der rechten Straßenseite aufgebaut, man konnte also keine verpassen.
Was vom Start bis zum Ziel dieses Laufes der absolute Wahnsinn war: die Zuschauer. Egal, ob es durch eine kleine Ansiedlung von Häusern ging, durch ein Dorf, eine Stadt oder auf der Landstraße durch den Wald – die Strecke war auf beiden Seiten lückenlos von Zuschauern gesäumt. Manche saßen in ihrem Garten und grillten, viele verteilten aus eigenen Beständen Obst und Getränke an die Läufer, reichten Kleenex-Tücher zum Schweißabwischen oder hielten die Hände zum Abklatschen hin. Und alle, alle feuerten jeden Läufer von der Start- bis zur Ziellinie an. Wenn man nicht selber dabeigewesen ist, kann man sich das kaum vorstellen. Die Stimmung in Köln zum Beispiel finde ich supergut, aber dies hier hat alles von mir jemals erlebte um Längen getoppt. Was fehlte, war der Name auf der Startnummer, die meisten wussten das aber anscheinend und haben sich auf den Rücken ein Namensschild geheftet oder den Namen auf Arm oder Bein gepinselt. Und sonst hörte man halt ohne Namen unaufhörlich Anfeuerungen wie „looking great, good job“.
Die nächsten Kilometer waren bis auf die tollen Kontakte zum Publikum und Plaudereien mit Mitläuferinnen eher ereignislos. Der Puls pendelte sich bei 82% ein, die Kilometerzeiten bei knapp unter 5 Minuten, Kilometer 9 mit 4:40 war ein kleiner Ausrutscher. Ich hatte einer Läuferin, die munter am Fotografieren war, angeboten, sie mit ihrer Kamera aufzunehmen. Sie drückte mir freudesstrahlend die Kamera in die Hand und sprintete los. Ich hinterher und sie gefragt, ob sie nicht lieber von vorne fotografiert werden möchte. Keine Ahnung, was sie sich bei der Tempoverschärfung gedacht hat, um ihre Kamera hatte sie anscheinend keine Angst. Von vorne fand sie dann auch besser, aber der Kilometer war dadurch zu schnell geraten. Jedesmal, wenn ich 5 Kilometer voll hatte, musste ich ein strahlendes Lächeln aufsetzen, da dort sowohl fotografiert als auch gefilmt wurde. Für noch teurer Geld als in Deutschland kann man sich das auch alles bestellen. Meine offiziellen Zeiten für die 5km-Abschnitte lagen bis km 20 bei 25:28, 24:45, 24:44 und 25:13. Verglichen mit meinem Bonn-Marathon 2004 waren das ein paar Sekündchen mehr, der Puls war dafür aber auch niedriger. Bei Kilometer 19 kündigte sich akustisch der Höhepunkt des Laufes an – Wellesley College. 2.400 College-Schülerinnen stehen bei km 20 am Straßenrand und brüllen sich die Seele aus dem Leib. Ohrenbetäubend, 1km vorher und 1km nachher deutlich zu hören, und beim Vorbeilaufen ohne Ohrenstöpsel kaum auszuhalten. Gänsehautfeeling pur. Jedes 4. Mädchen hielt dazu noch ein Schild hoch „Kiss Me“ oder „Flash – but only men“ (Männer, entblößt euren Oberkörper). Ich hatte aber keine Zeit und konnte auf die Schnelle nicht feststellen, ob dort auch Kameras montiert waren. Viele Junggesellen gerade aus den hinteren Reihen konnten den Angeboten aber bestimmt nicht widerstehen, die meisten der Kusssuchenden waren recht hübsch.
Für die nächsten 5 Kilometer brauchte ich 25:43 (fast 1 Minute mehr als Bonn 2004) – vielleicht trauerte ich doch noch in Gedanken den verpassten Chancen nach. Der Puls war inzwischen bei 87% angekommen und die Berge kommen ja erst noch. Kilometer 26 war mit 4:54 zwar wieder okay, aber bis Kilometer 30 ließ ich mit insgesamt 27:32 weiter nach. Es ging jetzt aber auch bereits seit einiger Zeit leicht bergauf. Und ich wusste, dass ich zu diesem Zeitpunkt in Bonn 2004 bereits anfing die Lust zu verlieren, hier hatte ich immer noch jede Menge Spaß. Auf Kilometer 31 probierte ich also mal aus, was noch geht und lief diesen in 4:58, das fühlte sich gut an. Jetzt half alles nichts, es mussten Zielzeiten überschlagen werden und ein Plan her. Unter 3:30:00 klang überschlagsmäßig nicht wirklich realistisch, aber 3:39:59 sollten locker drin sein. Also beschloss ich, an den bevorstehenden Anstiegen nicht unnötig Energie zu verschwenden, sondern gemütlich hochzugehen und dann bei Kilometer 34 auf dem Gipfel des Heartbreak-Hill die Keule auszupacken. Die nächsten 3 Kilometer dauerten dann also plangemäß 5:59, 5:41, 6:35 (das war der Heartbreaker, aber mein Ziel, diesen lächelnd zu überqueren, war damit erreicht) und jetzt los. Klappt auch prima, Kilometer 35 wieder in 5:00 und ich beschleunige noch etwas. Naja, man hatte mich vorher gewarnt, dass schnelles Bergablaufen auch intensiv trainiert werden muss und das bestätigte sich jetzt leider. Mein linker Oberschenkel machte gleichzeitig hinten und vorne zu und da ich einen Krampf (oder Schlimmeres) auf jeden Fall vermeiden wollte, legte ich eine kurze Gehpause ein, bevor ich versuchsweise wieder antrabte. Ging zwar, aber nicht dauerhaft und vor allem nicht mehr so schnell wie vorher und die nächsten 3 Kilometer entsprachen mit 5:38, 5:49 und 6:15 nicht wirklich meinen Erwartungen. 3:39:00 ade, aber Bestzeit soll es ja trotzdem noch werden, wo ich schon soweit gekommen bin und das Publikum nach wie vor fantastisch mitgeht. Kilometer 39 in 5:12, der nächste dann aber wieder in 5:36. Pinkeln müsst ich eigentlich auch mal, da kann ich aber jetzt keine Rücksicht mehr nehmen, zumal das einzige port-a-john weit und breit auch noch besetzt ist. Ich seh auch schon seit einiger Zeit das große CITGO-Reklameschild (dort beginnt die letzte Meile), würd ja auch gerne schneller, aber das linke Bein mag so gar nicht. Ein kurzzeitiger Krampf im rechten Fuß hört zum Glück sofort wieder auf. Dann gibt’s auch noch eine Eisenbahnüberführung und eine Straßenunterführung. Zwar winzige Steigungen im Vergleich zum Heartbreak-Hill, aber den bin ich ja auch gegangen und da hab ich jetzt eigentlich keine Zeit mehr für. „You’re looking great, less than a mile“ schreien mir meine Fans zu. Wie lang war nochmal so eine Meile? Und was sagt die Uhr, wie schnell muss ich die jetzt laufen? Wo ist mein Taschenrechner? Ist da vorne eigentlich schon der Zielbogen oder ist das eine Fußgängerbrücke? Ah, es geht noch mal nach rechts, ich erinnere mich wieder. Cirka 100 Meter, dann geht’s nach links und dann kann man aber das Ziel sehen. Ach du holy shit … sehen kann ich das große gelbe Marathon-Tor schon, aber das ist ja noch derbe weit weg. Was sagt die Uhr? 3:41:15, da bleiben ja keine 3 Minuten mehr. Schmerzen ignorieren, Zähne zusammenbeißen, Vollgas. Was für Schmerzen denn? Mir geht es super, und das Ziel fliegt mir entgegen. Arme hoch, strahlen, winken. Juchhu, ich habs geschafft. Ach so, schnell drücken. 3:43:45, yes! Ich bin da, ich bin ein Sieger, ich hab Bestzeit und das in Boston. Der letzte Kilometer ging in 4:38 weg, das fand ich nun echt beachtlich, auf einem Halben hab ich das noch nie geschafft und auf einem 10er häufig nur mit viel Mühe.

After Race:

Mit meinem glücklichen Strahlen und der Masse weitergetrabt. Rechts ein Wasser, links ein Gatorade (immer noch eklig süss, aber egal). Dann wird die Aludecke umgehängt, einer hängt, einer klebt mit einem Pflaster zu. Ich schwanke etwas, kann meine besorgte Nebenfrau aber sofort beruhigen, dass nur die Beine etwas wacklig sind und es mir ansonsten blendend geht. Tüte mit Bonbons und Müsliriegel aufgenommen, Banane (selbst geschält) und sofort verputzt, Joghurt-Drink wie üblich verweigert. Medaille ging schnell, da ich einen eigenen Championship habe und nicht erst warten muss, bis mir im Tausch der Leihchip vom Fuss operiert wurde. Jetzt kam nur noch die Suche nach dem Kleiderbus, und ich schimpfe wie ein Rohrspatz, dass es nur diesen Süßkram zum Essen gibt. Erst zu Hause in Deutschland sollte ich feststellen, dass die Bonbontüte in Wirklichkeit eine Chipstüte war. Mein Kleidersacksuchmädel war auch nicht das fündigste aber egal, meine Laune konnte nichts und niemand verderben. Endlich hat sie ihn und als ich mitbekomme, dass die Umziehzelte (sowieso ohne Duschen) in die andere Richtung wären, entscheide ich mich für Umziehen an der frischen Luft. Natürlich nur die Oberteile, und da meine Brustwarzen noch mit einem großen Pflaster abgeklebt waren, droht auch kein Nipplegate-Skandal. Zum nächsten gelben M für einen doppelten was weiß ich, der zum ersten Mal gut schmeckt und weiter ins Hotel zum Duschen und Umziehen. Danach noch ein paar Kilometerchen ganz locker (na ja, ziemlich bis etwas locker) gejogged, das hat sogar Spass gemacht. Am Abend gabs Alkohol und was fettes zu Essen, die After-Race-Party habe ich verweigert. Zum einen musste man da mit dem Bus-Shuttle hin, zum anderen war es eine Dancing-Party, und so bewegungssüchtig war ich dann doch nicht mehr.
Die Nacht geschlafen wie ein Baby und nachdem damit die Zeitumstellung erfolgreich bewältigt war, gings am nächsten Tag heim nach Deutschland. Treppensteigen? Kein Problem, selbst hinunter bin ich getänzelt wie eine Gazelle. Morgens in Deutschland angekommen, nach Hause zum Frühstück, und die Details im Internet geprüft. 20.117 Läufer und Läuferinnen waren auf der Strecke, 19.688 sind im Ziel angekommen und ich wurde 9.580ter. In Boston in der ersten Hälfte platziert, Wahnsinn. Das hat mich so beflügelt, dass ich abends gleich noch 8km joggen gewesen bin. Und heute bin ich immer noch tief beeindruckt von dem fantastischen Lauferlebnis und überglücklich.
"If you can do this, you can do anything!"

Und hier noch die Splits in 5-Kilometer-Schritten:

25:28 (km 5)
24:45 (km 10)
24:44 (km 15)
25:13 (km 20)
25:43 (km 25)
27:32 (km 30)
28:39 (km 35)
29:08 (km 40)
und noch 12:32 für die letzten 2,195 km

Durchschnittspuls betrug 84% (und mein Kilometerzähler zeigte sogar 42,6 km an, was den Schnitt theoretisch von 5:18 auf 5:15 verbessert)

Sonstiges:

Startlinie in Hopkinton

still going strong ...

 
 
Letzte Änderung: 31.03.2012 Home © by joefri